Es ist eine Geschichte, die Künstler, Geschichtenerzähler und Generationen von Walisern immer noch fasziniert. Wie wurde dieser Teil Argentiniens zur entlegensten Ecke von Wales? Warum segelten 150 Waliser 13.000 Kilometer über den Atlantik, um eine abgeschiedene Gemeinde in Südamerika zu gründen? Und wie haben sie überlebt, als sie 1865 mitten im Winter dort ankamen und das ihnen versprochene grüne Land nicht vorfanden?
Die Antwort ist eine Geschichte von Zusammenarbeit, Kameradschaft, Durchhaltevermögen und ein paar Menschen mit außergewöhnlichen Träumen.
Im Wales des frühen 19. Jahrhunderts fühlten sich Walisischsprechende, darunter viele nonkonformistische Christen, wegen ihrer Sprache und Kultur verfolgt. Ein parlamentarischer Bericht von 1847 über die walisische Bildung (später bekannt als The Treachery Of The Blue Books, zu Deutsch „der Verrat der Blauen Bücher“) verschlimmerte die Situation noch, da in ihm die walisische Sprache abgewertet wurde. Darin wurden Walisischsprechende verachtet und Strafen wie das „Welsh Not“-Schild (ein Stück Holz, das Kindern, die in der Schule Walisisch sprachen, oft zum Spott um den Hals gehängt wurde) befürwortet, was Auswanderungswellen von Wales nach Amerika auslöste. Ein nonkonformistischer Pfarrer aus Bala, der nach Ohio gezogen war, Michael D. Jones, wusste aus eigener Erfahrung, dass die walisische Sprache in ihrem Mutterland einen schweren Stand hatte. Die Idee, eine abgelegene Utopie weit entfernt vom Einfluss der englischen Sprache zu schaffen, wurde zu seiner Obsession.
Ein in Caernarfon geborener Verleger und Buchdrucker namens Lewis Jones hatte die gleiche Idee. 1862 reiste er in Begleitung des walisischen liberalen Politikers Sir Love Parry-Jones (dessen Heimat Madryn dem Hafen, in dem die Siedler landeten, seinen Namen geben würde) in das Chubut-Tal in Patagonien. Ein argentinischer Minister bot ihnen Land an, obwohl die Region bereits von einem indigenen Stamm besiedelt war.
Später in diesem Jahr wurde eine Broschüre, in der Patagoniens schöne Seiten angepriesen wurden, von einem anderen Waliser, Hugh Hughes, geschrieben und in Wales verbreitet. Hughes’ Versprechungen, dass Patagonien ein üppiges, grünes Land wie Wales war, waren etwas übertrieben. Trotzdem überzeugte die Broschüre 150 Menschen, viele aus den Gemeinden des Rhondda-Tals wie Aberdare, Mountain Ash und Abercwmboi, an Bord des Tee-Seglers Mimosa zu gehen. Als sie am 28. Mai in Liverpool ablegten, bestand ihre Mission darin, eine neue walisische Siedlung zu errichten. Sie sollten sie schließlich Y Wladfa nennen.
Der Aufbau von Y Wladfa
Zwei Monate und vier Tage später legte die Mimosa in Patagonien an. Dort sahen die Siedler nicht die Idylle, die ihnen versprochen worden war. Es war mitten im Winter und das Chubut-Tal war nach längerer Dürre trocken. Es folgten Sturzfluten, die eine der frühen walisischen Siedlungen zerstörten. In diesen frühen Jahren war es auch schwierig, frisches Wasser zu finden, bis ein Gemeindemitglied, Rachel Jenkins, einen Plan zur Bewässerung des Landes entwickelte. Danach, im späten 19. Jahrhundert, war die Weizenernte erfolgreich und reichlich.
Den Walisern wurde auch von vielen Stammesmitgliedern der Tuhuelche geholfen. Sie brachten den Walisern das Jagen bei und tauschten Guanakofleisch gegen walisisches Brot ein, was den Walisern half, sich in ihrem neuen Zuhause einzuleben.
Die ersten Siedlungen wurden an der Ostküste gegründet und viele überleben bis heute. Puerto Madryn ist heute eine Stadt mit 100.000 Einwohnern, Heimat eines riesigen Aluminiumwerks und ein beliebter Touristenort für die Walbeobachtung. Eine Statue einer Waliserin steht am Hafen, blickt ins Landesinnere und erinnert die Besucher daran, wie alles begann. Achtzig Kilometer südlich ist Trelew ("Tre" bedeutet Stadt, "Lew" für Lewis Jones), ein blühender Umschlagplatz für den Wollhandel. Hier findet jährlich das Eisteddfod der Region statt, und die Stadt beherbergt mehrere zweisprachige Schulen in Walisisch und Spanisch. Rund 30 walisische protestantische Kapellen prägen die Landschaft mit erkennbar walisischen Namen wie Moriah und Tabernacl.
15 km flussaufwärts liegt Gaiman, die Heimat des Museo Histórico Regional, das die walisische Geschichte feiert. Es ist im alten Bahnhof untergebracht, den die spätviktorianische Chubut-Eisenbahn bediente, ein Projekt, das auch von Lewis Jones vorangetrieben wurde und das dem Wachstum der Region half. Walisische Teehäuser sind hier immer noch beliebt, die einen patagonischen Verwandten des walisischen Bara-Brith-Kuchens, auf Spanisch torta negra oder auf Walisisch cacen ddu genannt, anbieten. Das Dorf Dolavon liegt ebenfalls in der Nähe (Dol bedeutet auf Walisisch Wiese und Afon bedeutet Fluss).
Andere Siedlungen 650 km westlich enstanden im frühen 20. Jahrhundert in einem Gebiet, das als Cwm Hyfryd (Pleasant Valley, schönes Tal) bekannt wurde. Die nahe gelegenen Berge der Anden erinnerten die Waliser stärker an ihre Heimat. Die Siedlungen Esquel und Trevelin (Mill Town, Mühlenstadt) sind bis heute bewohnt.
Heutzutage
Patagonias Vermächtnis reicht bis nach Wales zurück und das nicht nur in der Gedenktafel an Lewis Jones, die jetzt in der Pool Street in Caernarfon in der Nähe seines alten Hauses glänzt. Patagonien hat Schriftsteller wie Richard Llewellyn beeinflusst, dessen Fortsetzungen von How Green Was My Valley die Hauptfigur Huw Morgan nach Patagonien bringen (die Bücher sind vergriffen, aber es lohnt sich, sie als gebrauchte Bücher zu suchen: Up Into The Singing Mountain und Down Where The Moon Is Small haben auch die stimmungsvollsten Titel, die zum Erkunden von fernen Ländern einladen).
Gruff Rhys von The Super Furry Animals drehte 2010 einen gefeierten Film über Patagonien, Separado. Darin unternimmt der walisische Sänger und Musiker einen Ausflug, um entfernte Verwandte aufzuspüren. Es ist eine ebenso unterhaltsame wie psychedelische Reise wie seine brillanten Alben. Der walisische Dramatiker Marc Rees schrieb 2015 mit dem Nationaltheater von Wales und dem walisischen Fernsehsender S4C das Stück 150 über die ursprünglichen Mimosa-Siedler, benannt nach der Anzahl derer, die über das Meer reisten. Das Stück wurde in den Lagerhallen des Royal Opera House in Aberdare aufgeführt, in dem Ort aus dem viele Siedler stammten, und es war ein großer Erfolg. Das Nationalorchester von Wales und die Harfenistin Catrin Finch tourten im selben Jahr auch durch Patagonien vor großem Publikum, das mit dem gleichen Hwyl wie die Waliser in Wales mitsang.
Die Verbindungen zwischen Wales und Patagonien blühen weiter. Das Welsh Language Project setzt seine hervorragende Arbeit in der Region fort und fördert seit 1997 Walisisch in Schulen, Workshops und sozialen Aktivitäten im gesamten Chubut-Tal. Seitdem ist ein Bildungskoordinator aus Wales dauerhaft in Patagonien ansässig, ergänzt durch ein Netzwerk von argentinischen walisischen Muttersprachlern. Das National Centre For Learning Welsh reicht eine helfende Hand weit über den Atlantik, um das Netzwerk zu unterstützen, und bietet Patagoniern jedes Jahr drei Stipendien an, um Walisisch an der Cardiff University oder der Aberystwyth University zu studieren.
Die walisische Freiwilligenorganisation für junge Menschen, Urdd Gobaith Cymru, organisiert seit 2011 auch jährliche Reisen für alle Urdd-Mitglieder und junge Walisischlerner, damit sie als Freiwillige nach Patagonien reisen können. Auf der Urdd-Webseite findet man Details zu ihren neuesten Reisen und wie lokale Urdd-Koordinatoren den Teilnehmern helfen können, Spenden zu sammeln. Unternehmen wie Teithiau Tango bieten auch walisische Sprachferien in der Region an, oder man kann sich auf eigene Faust auf den Weg machen, so wie es unsere Vorfahren vor vielen Jahren getan haben.
Denn obwohl die Geschichte von Y Wladfa nicht so einfach oder romantisch ist, wie wir erwartet hatten, erklingt ihre Erfolgsgeschichte immer noch klar und deutlich.