An einem regnerischen Tag im November 2015 schossen Charlotte James und Clémentine Schneidermann mit einer Handvoll Kostümen und ihrer gemeinsamen Liebe zu Performance und Schauspiel ihre ersten Fotos von der Jugendgruppe Coed Cae. Sie ahnten nicht, dass dies der Beginn eines gemeinsamen Projektes war, an dem sie die nächsten zehn Jahren arbeiten würden.
„Es war unglaublich, wie viele Kinder kamen“, sagt Clémentine. Die aus Paris stammende Fotografin war damals für einen Aufenthalt bei einer lokalen Organisation in Südwales. „Der Regen war so stark, dass wir kaum Fotos machen konnten, weil mein Objektiv so beschlagen war."
„Damals hatten wir weder eine Vision noch einen Plan“, gesteht Charlotte, eine Kunstdirektorin und Filmemacherin aus Merthyr Tydfil. „Wir hatten ein gemeinsames Interesse daran, in der Gemeinde im Tal zu arbeiten, aber das war alles. Doch als wir die Kinder kennenlernten, wussten wir sofort, dass sie großartig sind. Typische Kinder aus den Valleys, frech und mit viel vorlautem Selbstbewusstsein.“
Dieses Shooting war der Beginn ihres zehnjährigen Projekts It's Called Ffasiwn, bei dem junge Menschen kreative Fähigkeiten erlernen und mit professionellen Künstlern zusammenarbeiten, um gemeinsam Fotos zu schaffen. Das Projekt wurde in der Martin Parr Foundation und im Amgueddfa Cymru (dem Nationalmuseum von Wales) ausgestellt und führte sogar zu einer Zusammenarbeit mit dem international berühmten britischen Modedesigner Alexander McQueen im Jahr 2020.
Die sozialen Aspekte von Ffasiwn sind ebenso wichtig wie die kreativen. Die Workshops bringen junge Menschen mit professionellen Kreativen zusammen, um jungen Menschen aus der Arbeiterklasse das Selbstvertrauen zu geben, eine Karriere in der Kunst anzustreben.
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Ihr Modell der Zusammenarbeit, ihre sozialen Ziele und die Reaktionen auf die ersten Fotos von Ffasiwn zeigten, dass sie etwas ganz Besonderes geschaffen haben.
„Die Kinder sind das, was die Fotos ausmacht“, sagt Charlotte. „Es ist diese Energie, die sie mitbringen. Die Einstellung, die die Mädchen auf den Fotos rüberbringen, ist nicht von uns konstruiert. Das kommt alles von ihnen.“
Es gibt zwar viele Projekte über das postindustrielle Großbritannien, aber keines hat versucht, die Farben, den Charakter und die Lebendigkeit der Menschen, die in den südwalisischen Tälern leben, so hervorzuheben, wie es Ffasiwn getan hat.
„Für uns ging es nie um Armut und Benachteiligung“, sagt Clémentine. „Wir versuchen nicht, die Realität zu leugnen, aber wir wollen ein positives Bild der Gemeinschaft vermitteln und Hoffnung abbilden.“
Das Projekt ist organisch gewachsen und hat zur Gründung des Fotostudios Bleak Fabulous geführt. Als Erweiterung ihres Modells dieser einzigartigen Zusammenarbeit werden im Studio Workshops, Filme, Ausstellungen und Bilder geschaffen.
Das Studio nimmt neben seiner laufenden Jugendprojektarbeit auch Auftragsarbeiten an, wie das jüngste Projekt einer Dokumentation des Eisteddfod 2024 in Pontypridd.
„Unsere Arbeit zeigt Wales in seiner ganzen Pracht, an dunklen Wintertagen oder in der Abenddämmerung des Sommers“, so Clémentine. „Wir haben uns vorgenommen, die unterschiedlichen Schönheiten, die Wales zu bieten hat, einzufangen. Es hat uns großen Spaß gemacht, für die Cymru Wales Nation Brand zu arbeiten.“
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Die beiden wollten mit verschiedenen Arten der walisischen Identität spielen und traditionelle neben zeitgenössische Künstler stellen. Dazu fotografierten sie auf dem Festival und an Orten in und um Pontypridd wie dem Ponty Market und dem traditionsreichen Prince's Café.
„Uniformen und Kostüme waren uns bei der Auswahl der zu fotografierenden Personen sehr wichtig“, sagt Charlotte. „So zum Beispiel bei der Drag Queen Catrin Feelings. Wir haben sie ausgewählt, weil sie ihre ganz eigene Interpretation der walisischen Nationaltracht trug.“
Romantische Vorstellungen von Wales als einem Land mit atemberaubenden Küsten und Landschaften waren vom Tisch. Sie wollten die Menschen in den Vordergrund stellen, die das Herz und die Seele von Wales sind.
„Ich denke, es ging um das echte Wales und darum zu zeigen, dass es nicht nur diese idealisierte Vision eines schönen Landes ist“, sagt Clémentine. „Es geht besonders um den Gemeinschaftssinn der in Wales sehr stark ist. Wir versuchen nicht, Wales als etwas anderes darzustellen als das, was es ist.“
Eine der Gruppen, die sie fotografiert haben, ist Dare to Sing. Sie sind ein reiner Frauenchor aus Cwmdare und sind der Inbegriff dessen, was die Fotos widerspiegeln sollen.
„Sie waren die Besten“, sagt Charlotte. „Wir baten sie alle, Sonnenbrillen zu tragen. Als sie ankamen, stiegen viele von ihnen aus ihren Autos, alle in Schwarz gekleidet und mit Sonnenbrillen an einem trüben Tag. Sie haben alle miteinander gescherzt, sie hatten es einfach drauf. Perfekte Frauen aus dem Valley eben.“
Charlotte und Clémentine haben seit jenem kalten Herbsttag in Gellideg vor einem Jahrzehnt einen weiten Weg zurückgelegt. Sie begannen ohne Budget, Ressourcen oder Plan und sie hoffen, dass ihr Projekt zeigt, dass man nichts von alledem braucht, um etwas erreichen zu können.
„Du brauchst nicht darauf zu warten, dass dir jemand sagt, was du tun sollst. Oder darauf einen Auftrag zu bekommen. Warte nicht darauf, dass das Telefon klingelt, um dein leidenschaftliches Projekt zu starten. Du brauchst auch nicht darauf zu warten, dass sich eine Gelegenheit ergibt“, sagt Clementine.
Im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit haben sie intensiv mit walisischen Künstlern zusammengearbeitet und so ein Netzwerk walisischer Nachwuchstalente geschaffen. Ein Ergebnis, auf das sie zu Recht stolz sind.
„Wir wollten schon immer die Wahrnehmung dessen, was Wales sein kann, in Frage stellen“, sagt Charlotte. „Den Menschen zeigen, dass man nicht in einer großen Stadt sein muss, um etwas zu erschaffen. Man kann auch dort kreativ sein, wo man gerade ist: in Wales.“
Clémentine und Charlotte haben kürzlich einen Zuschuss von UNFUND erhalten, um ein Buch und eine Ausstellung über das Ffasiwn-Projekt zu erstellen.
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